Tinder-Experiment von Nadia Kailouli: Die App, die Singles zu schlechteren Menschen macht - WELT (2024)

Anzeige

Am Ende säßen sich dann aber doch nur zwei Menschen gegenüber und müssten miteinander reden. Dabei habe Tinder doch versprochen, den Leuten das Mühsame beim Kennenlernen abzunehmen, sagt Nadia nach dem Date mit Joachim. Joachim, der Filmregisseur. Ihr erster Tinder-Kontakt, das „perfekte Begrüßungsgeschenk“ der App. Der Mann, der am gleichen Tag wie sie Geburtstag, aber im Gesicht zu viele Haare hat. Der Einzige, der nach einer Woche extremen Displaywischens und exzessivem Daten bei ihr hängen bleibt.

Anzeige

„7 Tage unter Singles“ heißt die Folge der NDR-Dokureihe, in der sich Autorin Nadia Kailouli auf digitalen Männerfang begibt. Seit zwei Jahren sei sie Single und nun auf der Suche nach etwas Festem. Sie sei des ständigen Männer-Kennenlernens müde, des ständigen Mal-Schauens, was sich daraus ergibt. Sie will einen Mann fürs Leben. Einen, der die Küche liebt und Partys scheut. Tinder werde weltweit jeden Tag etwa 20.000 Mal heruntergeladen, habe inzwischen etwa acht Milliarden Matches produziert. Ihre Umgebung, so Kailouli, quille über vor Singles. In einem Suchradius von 80 Kilometern in und um Hamburg müsse doch etwas Passendes zu finden sein.

Wirkt Tinder persönlichkeitsverändernd?

Arthuro, so steht schnell fest, ist es jedoch sicher nicht. „Oh Gott, oh Gott!“, ruft die 32-Jährige entsetzt, als sie ihn von Weitem am ausgemachten Treffpunkt erspäht. „Überhaupt nicht mein Typ!“

Anzeige

Zum Glück will der jugendliche Gamedesigner erst einmal sein Leben genießen und ist deshalb auch so überhaupt nicht traurig, dass „Nadine“, wie er Nadia nennt, nicht auf ihn steht. Fabio, der am allerliebsten und ausschließlich Fußball und Bier mag, steht vor allem auf nonverbale Kommunikation und schießt sich damit genauso schnell ins Abseits wie sein Vorgänger. Er redet nicht – da ist es der Singlefrau auch egal, ob er Küchen oder Partys mag.

Lesen Sie auch

Tinder-Experiment von Nadia Kailouli: Die App, die Singles zu schlechteren Menschen macht - WELT (1)

Advertorial WELT-DEAL

Exklusiv für WELT-Leser: Sauvignon Blanc Paket

Und so schwant der Autorin schon nach zwei Tagen Ernüchterung. Nicht nur das: Eine tiefgreifende Auswirkung auf ihre Persönlichkeit habe Tinder sogar. Ein zweites Ich habe sich etabliert. Tinder-Nadia. „Die App“, so sagt sie, „verstärkt Eigenschaften an mir, die ich bislang gar nicht kannte.“ Süchtig sei sie geworden, süchtig nach Aufmerksamkeit.

Ein zuweilen unbeholfener Versuch, dem Bildungsauftrag der Öffentlich-Rechtlichen nachzukommen und einer oberflächlichen Angelegenheit schließlich doch noch etwas Tiefe zu verleihen. Tinder – die App, die die Persönlichkeit verändert und Singles zu schlechteren Menschen macht, so die These.

Viel Muskelmasse, wenig Mut

Anzeige

Überhaupt kein Freund der Dating-App ist Kailoulis Real-Life-Date Leon. Der „Proteinpumper“, wie sie ihn nennt, spricht sie im Fitnessstudio an, als sie statt ihrer Oberschenkel wieder einmal den Wischmuskel am Daumen trainiert. Er selbst habe Tinder ausprobiert. 89 Matches und nicht ein einziges Date, so die traurige Bilanz des verschwitzten Muskelprotzes mit Basecap. Mister Masse mangelt es angeblich an Mut. „Ich würde mich gerne von einer Frau ansprechen lassen“, sagt er. Die Masche zieht. Zwischen Gummiball, Gymnastikmatte und Gewichten arrangiert Nadia Kailouli das nächste Date. Nun sei sie fast gerührt vom echten Leben, gesteht sie.

Allerdings stellt sich der vermeintlich schüchterne Sportsfreund Leon schnell als überhaupt nicht so gehemmt wie vorgegeben heraus.

„Wann hattest du deine letzte Freundin?“, fragt die Journalistin ihn beim Date im Park.

Anzeige

Anzeige

„Definiere Freundin“, sagt er.

„Och, ich kann es nicht mehr hören!“, schimpft sie. „Jeder Mann sagt das! Sobald du mit einer Frau schläfst, und das zwei Mal hintereinander und die bleibt zum Frühstück – dann hast du ’ne Freundin!“

„Okay, dann vor zwei Wochen!“

Drehbuchreifes Date mit vielen Drinks

Zum Glück ist da ja noch das „perfekte Begrüßungsgeschenk“ der App, das endlich ausgepackt werden will. Joachim. Wie er sie sich so vorgestellt habe, fragt Tinder-Nadia im schummerigen Licht einer co*cktailbar. „Du bist hübscher als auf dem Foto“, sagt der Filmregisseur nahezu drehbuchreif. Die Frau grinst. Fast könnte der Zuschauer glauben, Joachim drehe hier gerade seine eigene Liebesschnulze – nicht zuletzt durch die grenzwertig nah am Kitsch ausgewählte Musikuntermalung. „I‘m your man“, singt Leonard Cohen.

Joachim hat inzwischen den ein oder anderen Drink heruntergespült und die geschätzt 47. selbst gedrehte Zigarette geraucht. Was Frauen attraktiv mache, sei Selbstbewusstsein, resümiert er. Frauen, die nicht wüssten, was sie wollten – unsexy! Die beiden Paarungswilligen stellen Gemeinsamkeiten fest. Den Geburtstag am 1. August zum Beispiel. Schließlich legen sie ihre Hände aneinander. „If you want a father for your child or only want to walk with me a while“, raunt Leonard Cohen jetzt.

Tinder-Experiment von Nadia Kailouli: Die App, die Singles zu schlechteren Menschen macht - WELT (2)

Das könnte das märchenhafte Ende von Tinderellas Suche nach dem Traumprinzen sein, wenn ... ja, wenn da nicht die dringliche Suche nach der Tiefgründigkeit in einer per se oberflächlichen Angelegenheit wäre. Also gibt die Journalistin nach dem Date zu bedenken, dass bei all den Menschen, die sie in diesem Sieben-Tage-Date-Marathon treffen wird, die guten Abende womöglich unterzugehen drohen. Man könne sich auf Tinder verlieren. Sie selbst habe sich durch die App verändert. Ruhelos sei sie – und unentschieden.

Vielleicht will sie Joachim deswegen nach dem zweiten Date auch nicht mehr wiedersehen. Vielleicht aber auch deshalb, weil der 35-Jährige in Wahrheit doch nur ein „Player“ ist und Partys möglicherweise mehr mag als Küchen. Vor allem aber müssten Tinder-Nutzer schließlich doch miteinander reden. Aber Joachim, so das Fazit, stelle zu wenige Fragen und rauche zu viele Zigaretten.

„7 Tage ... unter Singles“, 19.10.2015, 04:10 Uhr, NDR Fernsehen

Tinder-Experiment von Nadia Kailouli: Die App, die Singles zu schlechteren Menschen macht - WELT (2024)
Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Nathanael Baumbach

Last Updated:

Views: 6160

Rating: 4.4 / 5 (75 voted)

Reviews: 90% of readers found this page helpful

Author information

Name: Nathanael Baumbach

Birthday: 1998-12-02

Address: Apt. 829 751 Glover View, West Orlando, IN 22436

Phone: +901025288581

Job: Internal IT Coordinator

Hobby: Gunsmithing, Motor sports, Flying, Skiing, Hooping, Lego building, Ice skating

Introduction: My name is Nathanael Baumbach, I am a fantastic, nice, victorious, brave, healthy, cute, glorious person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.